Von Mutmachern und Alltagshelden
An Nordrhein-Westfalens Schulen gibt es 697 neue Gesichter: Alltagshelferinnen und Alltagshelfer. Sie kümmern sich darum, dass Lehrerinnen und Lehrer mehr Zeit fürs Unterrichten haben – und zeigen dabei viel Empathie und Geduld.
Von Frank Lehmkuhl
Der Regen prasselt unaufhörlich gegen die Fenster der Grundschule an der Schwelmer Engelbertstraße. Im Klassenzimmer hingegen scheint die Sonne, dort füllt vielstimmiges Kinderlachen den Raum, vor dessen Tür ein Plakat hängt, das beschreibt, wer sich an dieser Schule alles tummelt: Entdecker, Forscher, Sportler, Mutmacher, Einzigartige und Helden. Einer dieser besonderen Menschen steuert gerade mit flotten Schritten auf Lehrerin Anna Müller zu, die ihn fröhlich begrüßt. „Du bist der Beste, Christian“, ruft sie, während Christian, der mit Nachnamen Böhlke heißt, ihr inmitten einer Schar von Mädchen und Jungen einen Zettel überreicht. Einen wichtigen Zettel. Er legt fest, welche Klassen in den kommenden Wochen zu welchen Pausenzeiten auf dem Schulhof kicken dürfen. Das Erstellen dieses von den zahlreichen kleinen Fußballfans immer heiß ersehnten Plans ist eine der Aufgaben, die Christian Böhlke seit diesem Schuljahr an der Grundschule im Bergischen Land übernimmt.
Böhlke, 45 Jahre alt, ist ein Alltagshelfer. Einer von 697 neu eingestellten Helferinnen und Helfern an nordrhein-westfälischen Schulen. Auf der Grundlage eines Handlungskonzepts, mit dem Schulministerin Dorothee Feller die Personalsituation an den Schulen verbessern will, werden sie an Grund- und Förderschulen in personell herausfordernden Lagen auf unbesetzten Lehrerstellen eingesetzt, um Lehrerinnen und Lehrer die Konzentration auf ihr Kerngeschäft zu ermöglichen: das Unterrichten. Die Nachfrage nach den externen Unterstützern ist groß. Weitere rund 30 Stellen sind aktuell auf dem Stellenportal VERENA ausgeschrieben. „Alltagshelferinnen und Alltagshelfer sind eine echte Hilfe“, sagt Ministerin Feller, „sie bringen vor allem besonders belasteten Schulen eine schnelle und spürbare Entlastung.”
Tatsächlich wird das zusätzliche Personal in den Schulen mit offenen Armen empfangen. „Es vergeht kein Tag, an dem ich nicht mit einem Dankeschön nach Hause gehe“, erzählt Christian Böhlke. Er übernimmt in seinen 30 Wochenstunden Tätigkeiten, die Lehrkräfte in der Vergangenheit immer wieder stark gebunden und vom Unterrichten und Erklären abgehalten haben. So ruft Böhlke morgens die Eltern von nicht erschienenen Kindern an und fragt, ob es den Mädchen und Jungen zu Hause gutgeht. Er hat immer ein offenes Ohr für die Probleme des Nachwuchses und nicht selten auch der Lehrkräfte. Und er kümmert sich zusammen mit einer IT-Fachkraft um die Inbetriebnahme von Tablets oder steht am Kopierer, wenn eine Lehrerin oder ein Lehrer einen Schwung Arbeitsblätter benötigt. „Christian ist aber alles andere als ein Handlanger“, betont Schulleiter Mathias Wagener. „Er ist mit vielen Ideen und seiner Kreativität eine enorme Bereicherung für unser Schulleben.“
Böhlke hat Sozialwissenschaften studiert und lange als Golflehrer in Mettmann gearbeitet. Irgendwann plagte den Remscheider Familienvater die Sorge, dass das Geld als Freiberuflicher nicht mehr reichen könnte. Seine Frau Alexandra, die als Grundschullehrerin arbeitet, erzählte ihm von den Stellenausschreibungen für Alltagshelferinnen und Alltagshelfer. Daraufhin bewarb er sich in Schwelm, fuhr zum Gespräch mit Schulleiter Wagener und erhielt von diesem 20 Minuten später die telefonische Benachrichtigung, dass er einen sehr guten Eindruck hinterlassen habe. Bald darauf hatte Christian Böhlke sein neues Arbeitspapier unterzeichnet.
Noch in den Ferien erstellte Mathias Wagener ein Konzept, um den neuen Alltagshelfer gut vorbereitet zu empfangen. Darin ist als Arbeitsschwerpunkt „die Unterstützung der Lehrkräfte bei Alltagsroutinen und Alltagsaufgaben“ festgelegt. Dies bedeutet beispielsweise, dass Christian Böhlke im Unterricht als Ansprechperson dient, Schulwanderungen und Klassenausflüge begleitet, die Vollständigkeit von Medien und Materialien prüft oder sich Listenführungen und Dokumentationsaufträgen widmet. „Alltagshelferinnen und Alltagshelfer sollen eine physische und psychische Entlastung sein“, sagt Schulleiter Wagener, „und genau das spüren wir hier.“
Gut 50 Kilometer entfernt, in Gelsenkirchen, spüren sie das auch. An der Regenbogenschule auf Schalke sieht das Tätigkeitsprofil von Kübra Kacar und Yvonne Dominas ähnlich aus. Die beiden Frauen empfing ebenfalls große Dankbarkeit – seitens der Lehrkräfte, aber auch der Schülerinnen und Schüler. „Es ist in nur wenigen Wochen eine große Bindung zwischen den Kindern und uns entstanden“, erzählt Kübra Kacar, die den Beruf der Zahnarzthelferin gelernt hat und lange in einer Praxis tätig war. Nun, so sagt sie, sei die Wertschätzung für ihre Arbeit deutlich größer. Die Mädchen und Jungen empfangen die neuen Kräfte morgens häufiger mit selbstgemalten Bildern.
Das Vertrauen konnte an der Ruhrgebietsschule so schnell wachsen, weil die Frauen nicht nur administrative Arbeiten und Botengänge absolvieren, sondern seit dem ersten Tag auch Sorgen und Nöte der Schülerinnen und Schüler lindern. Die Regenbogenschule hat einen hohen Sozialindex, viele der insgesamt 440 Mädchen und Jungen sind erst vor nicht allzu langer Zeit nach Nordrhein-Westfalen gekommen und sprechen kaum oder noch gar kein Deutsch. Nicht selten kommen sie morgens deshalb mit einer gewissen Unsicherheit in die Schule. Dann springen die Alltagshelferinnen in die Bresche und spenden Trost, wenn die Stimmung aufgehellt werden muss. „Das ist für uns hier nicht ‚nur‘ Schule oder Arbeit, es ist zu einer Familie geworden“, sagt Kübra Kacar. Einer Familie, die Yvonne Dominas auch gegen seltsame Kommentare verteidigt. „Wenn Bekannte sagen `Was machst du denn da, du stehst doch bestimmt nur rum?`, dann habe ich keine Probleme, sie schnell davon zu überzeugen, dass meine Tage mit vielen sinnvollen Aufgaben gefüllt sind.“
Schulleiterin Astrid Röwekamp hat insgesamt fünf Alltagshelferinnen eingestellt. Alle waren in der Schule bereits bekannt, entweder durch den Besuch eigener Kinder oder durch Kontakte zu Eltern, deren Kinder die Regenbogenschule besuchen. Auf drei Eigenschaften hat die Schulleiterin in den Bewerbungsgesprächen besonders geachtet: „Empathie, Zugewandtheit und Geduld“. Kübra Kacar und Yvonne Dominas besitzen diese Fähigkeiten und passen somit bestens in das multiprofessionelle Team, das für die Kinder der Regenbogenschule im Einsatz ist.
In Schwelm zeichnet das Kollegium ebenfalls ein Mix vieler Qualifikationen aus. Dort sind neben dem Alltagshelfer etwa auch eine Schulsozialarbeiterin und eine sozialpädagogische Fachkraft tätig. Bevor Christian Böhlke eingestellt wurde, war es Schulleiter Wagener wichtig, ihre Zustimmung ebenso einzuholen wie die des Lehrerrats und des Personalrats.
Alle waren sich schnell einig, dass Böhlke an der Grundschule anfangen soll. Als Entdecker, Mutmacher, einzigartiger Mensch und Held des Alltags. Und als so vieles mehr.
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