Logo Bildungsland NRW - Bildungsportal
Mädchen schreibt eine Rechenaufgabe an ein Whiteboard.

Rechenschwierigkeiten vermeiden

Es ist wohl unbestritten: Rechnen ist eine basale Grundfähigkeit und für das Leben in unserer Gesellschaft unerlässlich. Studien zeigen allerdings, dass nicht alle Grundschülerinnen und -schüler die Mindeststandards erreichen. Schule NRW im Interview mit Prof. Dr. Christoph Selter von der TU Dortmund.

[Schule NRW 02-21]

In diesem Monat erschien die neue Handreichung „Rechenschwierigkeiten vermeiden. Hintergrundwissen und Unterrichtsanregungen für die Schuleingangsphase“ und wurde in einer großen Fachveranstaltung präsentiert. Erstellt wurde dieses Unterstützungsangebot vom Team des Projektes PIKAS, federführend war Prof. Dr. Christoph Selter von der TU Dortmund. Schule NRW war im Gespräch mit Prof. Selter und stellte Fragen zur Handreichung, zum Lernen in Zeiten von Corona und zu Zukunftsplänen.

Portrait Prof. Christoph Selter
Prof. Dr. Christoph Selter

Was hat Sie, lieber Herr Prof. Dr. Selter, veranlasst, sich so intensiv mit dem Thema „Rechenschwierigkeiten vermeiden“ zu beschäftigen?

In vierjährigem Abstand wird die internationale Vergleichsuntersuchung TIMSS durchgeführt. In 2019 erreichen 25,4 Prozent der Schülerinnen und Schüler in Deutschland in Mathematik nicht die Kompetenzstufe III. Diese Kinder verfügen allenfalls über elementares mathematisches Wissen sowie über elementare mathematische Fähigkeiten und Fertigkeiten. Mathematisches Lernen in der Sekundarstufe I wird dieser Gruppe von Schülerinnen und Schülern wahrscheinlich erhebliche Schwierigkeiten bereiten. Der Befund war auch in den Vorgängerstudien zu beobachten, ist also keineswegs neu.

Wir müssen dahin kommen, den Anteil der Schülerinnen und Schüler mit Schwierigkeiten erheblich zu verringern. Wichtig ist hierbei, dass die Hürden, die die Lernenden im Anfangsunterricht überwinden müssen, im Unterricht angemessen berücksichtigt werden: Zahlverständnis, Operationsverständnis, Stellenwertverständnis und nicht-zählendes Rechnen. Dieses sind auch die inhaltlichen Schwerpunkte der Handreichung.

Und was bedeutet das für den Unterricht?

Zur Umsetzung bedarf der Unterricht einerseits der Offenheit gegenüber dem Denken der Lernenden. Lehrpersonen müssen wissen, wie die einzelnen Kinder denken und rechnen (http://kira.dzlm.de). Andererseits ist die Orientierung an der Systematik des Faches, an den Zusammenhängen und den Besonderheiten der Lerninhalte erforderlich. Das versuchen wir in der Handreichung zum Ausdruck zu bringen: Worauf sollte bei der Beobachtung der Kinder und worauf sollte bei der Gestaltung des Unterrichts geachtet werden, um die Entstehung von Rechenschwierigkeiten weniger wahrscheinlich zu machen?

Besonders wichtig ist dabei der fachbezogene Austausch der Lernenden untereinander und mit der Lehrperson – und nicht nur das Erledigen individueller Arbeitspakete. Das ist auch ein Pfeiler der Konzeption unseres Projektes PIKAS: Kinder nicht nur zu beschäftigen, sondern als Lernende herauszufordern und zu unterstützen durch individuelles Lernen und durch Lernen von- und miteinander. Die Mathematik kann man sich in der Regel nicht im Selbstlernbetrieb individuell erarbeiten.

Welche Empfehlungen zur Vermeidung von Rechenschwierigkeiten geben Sie für die ersten Schulwochen im ersten Schuljahr?

Im Rahmen dessen, was in den ersten Schulwochen an Mathematik passieren kann, geht es darum, zu erheben, ob die Lernenden basale mathematische Kompetenzen besitzen, die für das erfolgreiche Mathematiklernen in der Schule wichtig sind, wie etwa Anzahlen bis 4 simultan zu erfassen, unstrukturierte Anzahlen durch Abzählen zu ermitteln, Mengen zu vergleichen (mehr, weniger, größer, kleiner, gleich) oder die Zahlenwortreihe bis 10 vorwärts aufzusagen. Wenn Kinder diese beim Schuleintritt nur teilweise oder unzureichend mitbringen, sollten diese zunächst aufgebaut werden, um ein erfolgreiches Weiterlernen zu gewährleisten.

Von besonderer Bedeutung ist es zudem, sich hinreichend viel Zeit für den Aufbau von Zahlverständnis zu lassen, also für den Aufbau von Zahlvorstellungen, die Fähigkeit zum Wechsel zwischen verschiedenen Darstellungen von Zahlen und für die Entdeckung der zahlreichen Beziehungen zwischen Zahlen.

Durch die Corona-Pandemie findet häufiger Distanzunterricht statt. Wie sehen Sie hier die Auswirkungen auf mathematisches Lernen für Grundschulkinder?

Vieles konnte und kann nicht oder muss(te) plötzlich ganz anders behandelt werden. Unterricht mit Austausch und Anleitung konnte oft nicht wirklich stattfinden. Zu den Auswirkungen dieser Bedingungen auf die mathematischen Kompetenzen liegen noch keine Daten vor, aber man kann natürlich vermuten, in welche Richtung die Ergebnisse gehen werden. Gleichwohl müssen wir versuchen, das Ausmaß der negativen Auswirkungen zu verringern.

Das größte Problem ist meines Erachtens, dass der bereits postulierte fachbezogene Austausch der Lernenden untereinander und mit der Lehrperson häufig nicht wie gewohnt stattfindet. Dieses ist insbesondere für diejenigen Schülerinnen und Schüler problematisch, die ohnehin schon schlechte Ausgangsbedingungen haben.

Worauf muss im Distanzunterricht besonders geachtet werden, um Rechenschwierigkeiten möglichst zu vermeiden?

Die Kriterien guten Präsenzunterrichts sollten weitestmöglich auch im Distanzunterricht gelten, also beispielsweise Verständnisorientierung bei der Erarbeitung, systematisches, verständnisbasiertes Üben, Berücksichtigung der prozessbezogenen Kompetenzen, Fokussierung nicht nur auf die Arithmetik und so weiter. Mir ist klar, dass das viel leichter gesagt als getan ist.

Zur Unterstützung haben wir auf PIKAS eine Kategorie zum Distanzunterricht eingerichtet, die Tipps und Beispiele, Anregungen zur förderorientierten Diagnose und auch zur diagnosebasierten Förderung, Lernvideos und digitale Pinnwände sowie Empfehlungen zur Gestaltung des Unterrichts in der Mischung von Präsenz und Distanz enthält.

Außerdem haben wir mit der Elternarbeit eine Kategorie geschaffen, in der wir Material zusammengestellt haben, das Lehrpersonen für die Elternarbeit – auch in Distanzphasen – nutzen können.

Welche Hilfestellungen gibt es für Schulen?

Für den Bereich ‚Diagnose und Förderung‘ im Unterricht haben wir begonnen, das Material des Projekts ‚Mathe sicher können‘ für den Einsatz in Grundschulen zu adaptieren. Eine Ausweitung auf die Klassenstufen 1 und 2 wäre für die Zukunft sinnvoll.

Für die sogenannten Mathehelfer (in der Einzel- oder Kleingruppenförderung, in der Lernbegleitung, im Ganztag oder zu Hause) gibt es Mahiko. Hier werden anhand von kurzen Videos wichtige fachdidaktische Grundlagen erklärt und mit Übungsanregungen verbunden. Hier haben wir mit dem 1. und 2. Schuljahr begonnen.

Und last, but not least bietet die Suchmaschine ProPriMa-Navigator die Möglichkeit, an den Begrifflichkeiten des Lehrplans orientiert gezielt nach Unterrichtsanregungen zu suchen.

Das Heft „Rechenschwierigkeiten vermeiden“ ist das erste Heft einer geplanten Handreichungsreihe. Welche Planungen gibt es für nachfolgende Hefte?

Seit einigen Jahren gibt es das Projekt ‚Mathe inklusiv mit PIKAS‘, das gegründet wurde, um Lehrkräfte bei der Planung, Durchführung und Reflexion inklusiven Mathematikunterrichts zu unterstützen. Lehrkräfte und Personen aus der Wissenschaft mit einem Hintergrund in Sonderpädagogik und Mathematik stellen auf der Projektwebseite Hintergrundinformationen für das Lernen im Spannungsfeld von Gemeinsamkeit und Individualität bereit. Zu dem Projektthema ‚Mathematik gemeinsam lernen‘ ist für den Sommer 2021 die nächste Handreichung geplant.

Zwei weitere Landesprojekte sind PIKAS digi und PIKAS kompakt. Aus diesen Projekten sind weitere Handreichungen zu den wichtigen Themen ‚Digitale Medien im Mathematikunterricht der Primarstufe‘ und ‚Sprachbildung im Mathematikunterricht der Primarstufe‘ in Planung. Mit diesen und weiteren Handreichungen wollen wir im Halbjahresrhythmus Impulse für die fachbezogene Unterrichtsentwicklung geben.

Im Rahmen der Handreichungsreihe „Mathematik Primar­stufe kompakt“ erschien mit der aktuellen Publikation „Rechenschwierigkeiten vermeiden“ ein Heft, das sich gezielt an Lehrkräfte richtet und sie in ihrem alltäglichen unterrichtlichen Handeln unterstützen soll. Die Hauptintention besteht darin, den Fokus auf zentrale Schlüsselstel­len zu richten, um das Auftreten von Rechenschwie­rigkeiten weniger wahrscheinlich werden zu lassen.

Die Handreichung wurde im Projekt PIKAS von ei­nem Team von Wissenschaftlerinnen und Wissen­schaftlern der Technischen Universität Dortmund und Grundschullehrkräften aus Nordrhein-West­falen entwickelt.

Hier finden Sie die Online-Version der Publikation.

Video-Grusswort