Manchmal glitzert das Leben - und manchmal tut es weh
Schulen sind in Nordrhein-Westfalen nach dem Schulgesetz verpflichtet, eigene Konzepte gegen Gewalt und sexuellen Missbrauch zu entwickeln. Ein wegweisendes Konzept in Mülheim nimmt tagtäglich das Wohlbefinden aller mehr als 300 Schülerinnen und Schüler in den Blick. Das multiprofessionelle Team fördert beispielsweise mit spielerischen Elementen gezielt das Selbstwertgefühl der Kinder, bietet Sozialstunden und Kindersprechtage an, stellt zu jeder Zeit Ansprechpartner zur Verfügung. Eindrücke aus einer Schule, die sich als echte Gemeinschaft versteht.
Es funkelt. Im Klassenraum der 4c der Astrid-Lindgren-Grundschule in Mülheim wandert eine glitzernde grüne Scheibe von Hand zu Hand, gefolgt von einem blauweißen Stein. Die Scheibe steht für positive Erlebnisse, der Stein für schlechte Erfahrungen. Maimouna, neun Jahre jung, greift sich den runden Sternenhimmel und erzählt, dass sie neue Ohrringe von ihrer Mutter bekommen hat, in Form von kleinen Schmetterlingen. Danach schnappt sich Hamdi Ali, 10, das Glitzerteil und berichtet vom Herumtollen mit seiner Katze und einem anschließenden Treffen mit seinen Freunden, das auch Spaß gemacht hat. Die Stimmung ist ausgelassen im Raum, alle freuen sich über die schönen Momente.
Das ist nicht immer so - manchmal entscheiden sich Kinder auch für den Stein. Dann erzählen sie, dass ihnen etwas passiert ist, das schmerzt und belastet. Etwas, das so schwer auf der Seele liegt wie ein großer Stein. Jemand aus dem multiprofessionellen Team der Schule stellt daraufhin immer die Frage, ob die Klasse etwas tun kann, damit sich das Kind besser fühlt, und bittet das Mädchen oder den Jungen um die Schilderung eines weiteren „Glitzermoments“. Denn nur so lernen die Kinder, selbstwirksam zu sein, eigene Bedürfnisse zu erkennen, über Schwierigkeiten und Wünsche zu sprechen, sich selbst etwas Gutes zu tun und einem schlechten Gefühl auch ein gutes Erlebnis entgegenzusetzen oder sich bei Bedarf Hilfe zu holen. Und bisweilen sind die Probleme auch so groß, dass nur noch Erwachsene helfen können.
Solche Probleme schnell erkennen und handeln – das ist ein elementarer Bestandteil des Anti-Gewalt-Konzepts der Mülheimer Astrid-Lindgren-Grundschule. Mit dieser Gesamtstrategie erfüllt die Schule aus dem Ruhrgebiet beeindruckend eine im nordrhein-westfälischen Schulgesetz verankerte Verpflichtung: Die Schulen müssen Programme entwickeln, um Gewalt und Aggressionen möglichst aus Klassenräumen fernzuhalten.
Vorbild dafür können eben die Mülheimer „Stein-Glitzer-Momente“ sein. Kinder, die zum Stein greifen, erzählen zum Beispiel davon, dass sie schlecht geschlafen haben. Dass sie sich krank fühlen. Dass sie gemobbt werden. Dass ihre Großmutter gestorben ist. Oder dass zu Hause gerade alles sehr kompliziert ist und vielleicht sogar mal zugeschlagen wird. 305 Kinder aus 34 Nationen besuchen die Mülheimer Schule. Dass sich jedes von ihnen traut, auch negative Erlebnisse zu schildern, liegt insbesondere daran, dass die Kinder sich ernstgenommen und gesehen fühlen – mit ihren Persönlichkeiten und Emotionen. „Das ist eigentlich das Kernstück unseres Konzepts“, erläutert Schulsozialarbeiterin Kirsten Heer. „Denn nur wenn ein Kind weiß, dass es nicht übersehen wird, dass es sich mit seinen Bedarfen an uns wenden kann und Hilfe findet und dass es sich hier mit seiner Meinung, seinen Wünschen und seinen Stärken einbringen kann, fühlt es sich sicher und wichtig genug, um seinen Platz in der Schulgemeinschaft zu finden. Nur so kann dann auch ein gutes Miteinander gelingen – denn alles, was stärkt, dient letztlich der Prävention.“
Mit Pippi Langstrumpf zu einem beeindruckenden Konzept
So steht es auch im auf Papier gebannten Leitbild der Astrid-Lindgren-Schule, das es gleich in zwei Versionen gibt: einmal adressiert an die Verantwortung tragenden Erwachsenen, einmal in etwas leichterer Sprache gerichtet an Kinder. In erster Linie aber, so Kirsten Heer, müsse das Leitbild einer Schule die Kinder ansprechen, „denn hier geht es doch um sie!“ Über den ersten Zeilen des Dokuments strahlt Pippi Langstrumpf. Unter der rothaarigen Heldin, die stark und selbstbewusst am Steuer des Schiffs „Hoppetosse“ ihres Vaters steht, heißt es: „Wir sind eine bunte Gemeinschaft, in der jeder Mensch seinen Platz hat: Denn wir sind alle unterschiedlich und das ist auch gut so.“
Das Fundament fürs Leben dieser Vielfalt und somit eben auch für das Schutzkonzept der Schule gegen Gewalt ist eine gemeinsam getragene Haltung im Kollegium. Die ist Schulleiterin Kathrin Grollmann besonders wichtig: „Wir haben viel Arbeit innerhalb von Schulentwicklungsprozessen investiert, um uns als echtes Team für die Kinder zu verstehen. Wir wollen die Schülerinnen und Schüler auf ihrem Weg bei uns bestmöglich begleiten und sie in ihrer Individualität verstehen und fördern. Und dafür verstehen wir uns hier wirklich als Verantwortungsgemeinschaft.“ Und weiter: „Hier ist jede Kollegin und jeder Kollege für die Kinder ansprechbar, niemand schaut weg. Damit das nicht zur Überforderung wird, haben wir viele Strukturen zur gegenseitigen Unterstützung eingeführt. Es gibt zahlreiche Informations- und Austauschformate wie zum Beispiel kollegiale Fallberatungen. Die Interventionswege im Ernstfall sind transparent. Vor allem aber haben wir etabliert, dass es auch unter uns Erwachsenen kein Makel ist, sich im Kollegium Hilfe zu holen, sondern eine gesunde und zielführende Kultur des Miteinanders. Und genau das soll ja auch bei den Kindern ankommen.“
Über allem steht der Gedanke: Jede Handlung hat einen Grund
Neben dieser im Team der Astrid-Lindgren-Schule gepflegten Solidarität ist die Erkenntnis wichtig, dass jede Handlung einen Grund hat – einen offensichtlichen oder verborgenen. Das, so sagt Kirsten Heer, rechtfertige nicht aggressive Ausbrüche, könne diese aber erklären und dadurch Hebel an die Hand geben, jedem Verhalten individuell zu begegnen und mögliche Ursachen für Gewalt im Vorfeld zu entschärfen. Damit das gelingen kann, müssen die Mitarbeitenden gut hinhören und sich viel Zeit nehmen.
Das beginnt an jedem Morgen an der Eingangstür der Schule. Schulsozialarbeiterin Heer, eine Kollegin sowie Schulleiterin Grollmann begrüßen jedes Kind beim Betreten der Schule. Sie kennen die Namen, wissen um die Familienverhältnisse, die Sorgen und Nöte, aber auch die Interessen, Stärken und Talente. Fällt ihnen morgens auf, dass es einem Kind nicht gutgeht, versuchen sie, der Sache in einem Gespräch auf den Grund zu gehen. Oft entspannt sich das Kind bereits, wenn es Verständnis erfährt und auf offene Ohren stößt. Problemlagen, die die Klassengemeinschaft betreffen, werden an die Klassenlehrkraft herangetragen und finden entweder ad hoc oder zum Beispiel im wöchentlich stattfindenden Klassenrat ihren Platz. Ziel ist immer auch, dass Streitigkeiten der Kinder untereinander rasch ausgeräumt werden. Falls erforderlich, passiert das auch während der Unterrichtszeit – die Klärungsprozesse haben immer Vorrang.
Sind Elterngespräche erforderlich, lädt Kirsten Heer nach Rücksprache mit dem Kind die Eltern telefonisch in die Schule ein. In schlimmen Fällen, wenn etwa zu Hause Gewalterfahrungen gemacht worden sind, greift der dafür vorgesehene Interventionsplan der Schule. Dann entscheidet das multiprofessionelle Team nach obligatorischem Austausch im so genannten „Sechs-Augen-Prinzip“ über die Maßnahmen. Im Zweifel schaltet es auch das Jugendamt ein, um sicherzustellen, dass das Mädchen oder der Junge all die Unterstützung erhält, die nötig ist.
Alle Bestandteile des Schutzkonzepts gegen Gewalt haben ihren festen Platz im schulischen Alltag
Meistens aber startet das schulische Personal morgens mit gut gelaunten Schülerinnen und Schülern in den Unterricht. Im Alltag der Schule haben alle weiteren Bestandteile des Anti-Gewalt-Konzepts ihren festen Platz, sind zu echten Ritualen geworden. Es gibt zum Beispiel Kindersprechtage, an denen jedes Kind eine exklusive Sprechzeit mit der Klassenlehrkraft hat. Die Mädchen und Jungen dürfen sagen, was in der Schule gut und was nicht so gut läuft. Jedes Kind darf sicher sein: Die Themen werden ernstgenommen, auch wenn es um Kritik an der Schule oder am Unterricht geht. Außerdem finden fest im Stundenplan verankerte Sozialstunden statt, in denen der Umgang mit Emotionen zum Thema wird oder die Gestaltung von Freundschaften. Mit im Portfolio hat die Schule auch Unterrichtsreihen und Projekte zu Kinderrechten und Demokratie, entspannende und gemeinschaftsfördernde Aktivitäten wie entsprechende Pausenangebote. Dazu Podcast-Produktionen, die „Kindern eine Stimme geben“, ganz viele Abstimmungen und Gelegenheiten für Mitbestimmung im Schul- und Klassenalltag und Komplimente-Runden, in denen die Kinder einander positive Rückmeldungen geben. Und vieles mehr.
„Universell“ heißen die Maßnahmen, die alle Schülerinnen und Schüler betreffen, „selektiv“ die Maßnahmen für Kinder mit erhöhten Risiken und „indiziert“ das Hilfspaket für einen ganz kleinen Prozentsatz von Mädchen und Jungen, die sich schwer tun im Umgang mit ihren Emotionen und häufiger in schwerwiegende Konflikte verwickelt sind. Bei dieser Gruppe intensiviert das multiprofessionelle Team seine Präventions- oder gegebenenfalls auch Interventionsarbeit: Die Zahl der Fallbesprechungen und Beratungsgespräche steigt – unter anderem mit dem Schulamt oder der schulpsychologischen Beratungsstelle. Auf der Agenda stehen zahlreiche Elterngespräche, Konferenzen und „runde Tische“ mit allen helfenden Personen, die involviert sind. Das Team knüpft zudem Kontakte zu Sportvereinen oder anderen Freizeitaktivitäten und zu therapeutischen oder medizinischen Institutionen. Vor allem aber setzt die Astrid-Lindgren-Schule bei den Stärken der Schülerinnen und Schüler an, „indem wir diese erkennen und sie uns, den Kindern und Eltern auf unterschiedlichen Wegen bewusst machen“, erläutert Kirsten Heer. Dazu dient unter anderem ein umfangreiches Angebot von Arbeitsgemeinschaften und das demokratische Mitwirken im Kinderparlament.
Schnelle Intervention auf dem Schulhof
Im Leitbild mit der mutigen Pippi an der Spitze steht: „Du sollst wissen, dass du hier nicht allein gelassen wirst. Den Weg deiner Grundschulzeit gehen wir gemeinsam!“ Was das in der Realität des nicht immer leichten Alltags bedeutet, zeigt Kirsten Heer an diesem Mittwochvormittag in Mülheim, direkt nach den „Stein-Glitzer-Momenten“. Gerade mussten alle Schülerinnen und Schüler das Gebäude wegen einer Feuerwehrübung verlassen. Nun stehen sie hinter ihren Lehrkräften in Reihen nebeneinander, warten darauf, dass sie wieder reindürfen.
Als das Go von Schulleiterin Grollmann ertönt, setzen sich die Grüppchen in Bewegung. Eine davon strebt zum Sportunterricht in Richtung Turnhalle. In diesem Pulk läuft auch ein Junge mit, der plötzlich zu weinen anfängt, man kann nicht sehen, warum. Sofort ist die Schulsozialarbeiterin bei ihm, nimmt ihn an die Hand, spricht beruhigende Worte und begleitet ihn erst einmal ein paar Meter in Ruhe über den Schulhof.
Es dauert nur Sekunden, dann hat sich der Junge gefangen. Er rennt zu seiner Turnhallen-Gruppe zurück, lacht wieder, verschwindet in der fröhlichen Kinder-Menge. Ganz so, wie das Personal der Astrid-Lindgren-Grundschule seine Schülerinnen und Schüler am liebsten sieht.
Autor: Frank Lehmkuhl
Schulministerin Dorothee Feller
„Gewalt und Aggressionen haben keinen Platz an unseren Schulen. Diese sind Orte, an denen sich alle am Schulleben Beteiligten sicher und gut aufgehoben fühlen müssen. Deshalb ist es uns wichtig, unsere Schulen bestmöglich zu unterstützen. Dass Schulen wie die Astrid-Lindgren-Grundschule in Mülheim ihrer gesetzlichen Verpflichtung, ein eigenes Konzept gegen Gewalt und sexuellen Missbrauch in ihren Alltag zu integrieren, mit großem Engagement des schulischen Personals nachkommen, ist ein wichtiger Baustein in der Gesamtstrategie gegen Aggressionen und Gewalt an unseren Schulen. Bei allem, was gemacht wird, ist es für uns von großer Bedeutung, noch stärker als bislang das Wohlbefinden unserer Schülerinnen und Schüler in den Blick zu nehmen und sozial-emotionale Kompetenzen zu fördern. Denn wenn sich die Kinder und Jugendlichen wohlfühlen und andere achten und schätzen, trägt das in großem Maße zu einer von Respekt getragenen Atmosphäre an unseren Schulen bei. Auch darauf wird in Mülheim geachtet, das ist vorbildlich. Und diesem Zweck dient auch das von uns gemeinsam mit der Technischen Universität Dortmund eingeführte Programm „MindOut“, das Schülerinnen und Schülern an immer mehr nordrhein-westfälischen Schulen dabei hilft, mit Gefühlen umzugehen, gesundes Selbstbewusstsein aufzubauen und friedlich mit anderen Menschen zu interagieren.“
2. Dezember 2025