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„Mehrsprachigkeit mit Herzblut“

Wie funktioniert das Landesprogramm „Grundschulbildung stärken durch HSU“ in der Praxis? Zwei beteiligte Schulen tauschen sich aus.

[Schule NRW 07/08-22]

Die GGS An der Burg in Hückelhoven und die Astrid-Lindgren-Schule in Erkelenz nehmen seit Beginn des Schuljahres 2021/22 am Landesprogramm teil. Im Mai 2022 fand ein Austausch mit Kolleginnen beider Schulen, dem Schulleiter Dirk Göbert (GGS An der Burg) und der Programmleitung über ihre Erfahrungen im ersten Jahr des Landesprogramms statt. Schwerpunkte des Austausches waren die Einbindung der für das Programm eingestellten HSU-Lehrkräfte und die Elternarbeit.

Die beiden Schulen setzen das Landesprogramm für ihren Standort passend auf unterschiedliche Weise um und kooperieren dabei eng miteinander.

 

Teilnehmende:

GGS An der Burg, Hückelhoven
Dirk Gröbert (Schulleiter), Schella K. Ennulat (Klassenlehrerin, Jahrgangsstufe 2), Ina Klewer (Klassenlehrerin,Jahrgangsstufe 2), Nevin Yelmen (HSU-Lehrerin)

Astrid-Lindgren-Schule, Erkelenz

Hasna Hakkadi (HSU-Lehrerin)

 

Was hat sich für Sie durch die Teilnahme am Landesprogramm verändert?

Nevin Yelmen, Hasna Hakkadi: „Wir verstehen uns nicht mehr als HSU-Lehrkräfte, sondern als Lehrkräfte für Mehrsprachigkeit und wir fühlen uns als Teil des Kollegiums.“

Hasna Hakkadi: „Durch die Teamarbeit mit den Grundschullehrkräften habe ich einen Einblick gewonnen, wie herausfordernd und vielfältig die Arbeit dieser Lehrkräfte ist.“

Ina Klewer: „Mit dem Einstieg in das Programm hat noch einmal ein Umdenken stattgefunden und zwar insofern, als wir das, was bislang in den Bereichen Mehrsprachigkeit und Interkulturalität eher unbewusst Eingang in den Unterricht und das gesamte Schulleben gefunden hat, nun bewusster und somit auch gezielter einsetzen.“

Schella K. Ennulat: „Uns wurde der Mehrwert der Einbeziehung der Mehrsprachigkeit für die Kinder noch einmal viel bewusster und wir haben uns noch einmal mit der eigenen Haltung gegenüber den verschiedenen Sprachen auseinandergesetzt.“

Nevin Yelmen: „Innerhalb der Klassen, also mit den Schülerinnen und Schülern, sprechen wir nicht mehr von Herkunftssprachen oder Familiensprachen, sondern von ‚Wunschsprachen‘. Es geht darum, welche Sprachen den Kindern wichtig sind. Ziel ist, eine grundsätzliche Freude und Offenheit gegenüber allen Sprachen zu fördern.“

Schella K. Ennulat: „So öffnen sich die Kinder vorurteilsfrei nicht nur verschiedenen Sprachen, sondern auch verschiedenen Kulturen. …und das wird in den Gesichtern der Kinder sichtbar!“

Dirk Gröbert: „Wir waren mal eine ‚HSU-Schule‘, jetzt sind wir eine ‚Mehrsprachigkeitsschule‘, das heißt früher hatten wir nur die Sprachen im Blick, die im Herkunftssprachlichen Unterricht unterrichtet wurden, dies standortbezogen, also an unserer Schule. Durch die Teilnahme an diesem Landesprogramm nehmen wir nun alle Sprachen, die für unsere Schülerinnen und Schüler wichtig sind, in den Blick und beziehen sie in den Unterricht mit ein. Dies führt auch dazu, dass nun, mehr als vorher, alle Mitglieder der Schulgemeinde bis hin zum Hausmeister und den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern der OGS in ein sprach- und kultursensibles Schulleben involviert sind.“

 

Was hat sich im Bereich der Einbeziehung der Eltern verändert?

Schella K. Ennulat: „Wir haben schon immer den Unterricht für Hospitationen für die Eltern geöffnet. Das Landesprogramm hat diese Öffnung intensiviert, die Eltern sind besonders interessiert und werden auch aktiv in unseren mehrsprachigen Unterricht einbezogen. So haben Eltern zum Beispiel beim Verfassen eines mehrsprachigen Gedichtes geholfen. Davon profitieren alle: Wir Lehrkräfte können auf die sprachliche Expertise der Eltern zurückgreifen und diese fühlen sich ernst genommen und wertgeschätzt.“

Nevin Yelmen: „Auch ‚Rucksack Schule‘ hat sich seit der Teilnahme am Programm an unserer Schule für weitere Sprachen geöffnet. Hier leisten wir unter anderem wertvolle mehrsprachige Informationsarbeit in Bezug auf das deutsche Schulsystem oder darüber, wie bestimmte Themen im Unterricht vermittelt werden. Die Art der Vermittlung kann in den einzelnen Ländern ja vollkommen anders sein, zum Beispiel beim Zählen. Bei auftretenden Schwierigkeiten ist es wichtig, sensibel darauf zu schauen, wo die Ursachen liegen könnten. Häufig sind sie leicht zu beheben, wenn man das Gespräch sucht und den Eltern beispielsweise das Wort „Kopfrechnen“ erklärt. So kann durch die simple Erklärung eines Wortes schnell nachvollziehbar gemacht werden, warum eine Leistungsüberprüfung des eigenen Kindes nicht gut bewertet wurde.“

Hasna Hakkadi: „Auch die Kolleginnen und Kollegen an der Schule müssen immer wieder dafür sensibilisiert werden, dass es vielfältige Ursachen für Probleme oder Missverständnisse geben kann, die eben auch sprachlicher und kultureller Natur sein können.“

Dirk Gröbert: „Deswegen sitzt Frau Yelmen bei uns an der Schule auch mit in der Förderkonferenz, um neben der sonderpädagogischen Perspektive auf das Kind gegebenenfalls auch aus dem Blickwinkel der HSU-Lehrkraft einen Beitrag zur Gestaltung der Förderpläne zu leisten. Darüber hinaus ist sie auch die Kontaktperson für die HSU-Lehrkräfte, die an unserer Schule den klassischen Herkunftssprachenunterricht durchführen.“

Nevin Yelmen: „Ich bin im Rahmen des Landesprogramms in allen Jahrgängen eingesetzt. Wenn Kolleginnen und Kollegen die Vermutung haben, dass bestimmte Probleme sprachliche Ursachen haben könnten, dann gebe ich dies an die HSU-Lehrkräfte weiter, die dann helfen können. Ich spreche mich mit den HSU-Lehrkräften aber auch über Themen ab, die gerade im Regelunterricht behandelt werden. So kann beispielsweise der für den aktuellen Unterricht wichtige Wortschatz sowohl im Regelunterricht als auch im HSU eingeführt und geübt werden.“

Ina Klewer: „Wir arbeiten uns alle gegenseitig zu und profitieren alle sehr davon. Das scheint normal, ist es aber nicht immer: das Landesprogramm bietet auch hierfür neue Perspektiven und Ansätze kollegialer Zusammenarbeit.“

Schella K. Ennulat: „Durch die gemeinsame Arbeit hat sich auch bei uns Grundschullehrkräften die eigene Haltung verändert. Wir gehen viel offener und sensibler auf die Eltern zu und die Eltern öffnen sich viel mehr der Schule.“

Hasna Hakkadi: „Die Eltern unserer Schülerinnen und Schüler hatten sich in den letzten Jahren immer mehr aus dem Schulleben zurückgezogen. Durch die Einrichtung eines mehrsprachigen Elterncafés und dadurch, dass ich aktiv das informelle Gespräch mit den Eltern suche, haben sich die Eltern wieder mehr geöffnet. Sie spüren auch, dass sich die gesamte Haltung an der Schule gegenüber Mehrsprachigkeit und kultureller Vielfalt öffnet.“

Dirk Gröbert: „Wir führen nun auch vor der Einschulung eine ‚herkunftssprachliche Anamnese‘ durch. So fragen wir zum Beispiel nicht nur ab, welche Sprachen ein Kind spricht, sondern auch, in welcher/welchen Sprachen sich das Kind besonders stark fühlt.“

Nevin Yelmen: „Das erhöht die Elternzufriedenheit ungemein, da sie spüren, dass es in Ordnung ist, wenn das eigene Kind bei der Einschulung in einer anderen Sprache stärker als in Deutsch ist. Das schafft Vertrauen und wirkt sich positiv auf die Zusammenarbeit aus. Und wir können die Kinder besser von Anfang an gezielter in ihrem Sprachbildungsprozess fördern. Als meine Rolle an der Schule noch nicht so bekannt war, habe ich ein T-Shirt mit der Aufschrift getragen ‚Deutsch MUSS, Mehrsprachigkeit PLUS‘.“

 

Mit Blick auf das letzte Schuljahr: Was hat sich bei der Umsetzung des Landesprogramms bewährt?

Hasna Hakkadi: „Der Anfang war extrem hart. Ich war oft unsicher, ob ich durch meine Arbeit wirklich die Schülerinnen und Schüler in ihrem Sprachbildungsprozess stärke oder ob ich ihn nicht eher verhindere. Zusammen mit Frau Yelmen habe ich viel recherchiert und überlegt, wie wir konkret arbeiten können. Materialien der Bezirksregierung Köln zur gelebten Mehrsprachigkeit waren dabei sehr hilfreich. Es hat gut vier Monate gedauert, bis ich mich sicherer fühlte und das Gefühl hatte, dass ich auf einem guten und richtigen Weg bin. Wichtig war auch, dass die Teamarbeit mit der Grundschulkollegin an meiner Schule von Anfang an gut funktioniert hat. Zu Beginn hätte ich mit mehr Vorgaben gewünscht. Jetzt sind wir allerdings froh, dass wir die Freiheit haben, dass Programm so umzusetzen, wie es für unsere Schule passt.“

Nevin Yelmen: „Uns war von Anfang an wichtig, dass die Förderung und Stärkung der Mehrsprachigkeit unserer Schülerinnen und Schüler in den Regelunterricht aller Fächer, also nicht nur in den Deutschunterricht, integriert ist und nicht als etwas Zusätzliches angesehen wird.“

Schella K. Ennulat: „Wir sprechen uns bezüglich der Unterrichtsvorbereitung ab und überlegen, wann es sich anbietet, die Mehrsprachigkeit mit einzubeziehen. Wir führen den Unterricht auch gemeinsam durch. So wird die Einbeziehung der Mehrsprachigkeit für die Kinder etwas Selbstverständliches.“

Dirk Gröbert: „Zu Beginn haben Frau Yelmen und ich uns viel Zeit genommen, um gemeinsam zu überlegen, wie wir unsere gemeinsame Herzensangelegenheit an unserer Schule umsetzen können. Das war ein so wichtiger Prozess; persönlich, aber auch für die Übertragung in das gesamte Kollegium und die Weiterentwicklung unserer Bildungsarbeit.“

Nevin Yelmen: „Für mich war es am Anfang eine große Hilfe zu wissen, dass das gesamte Team mich unterstützt, also die Schulleitung und die Grundschulkolleginnen und -kollegen. Neben den Gesprächen mit Herrn Gröbert gab es von Anfang an einen guten und beständigen Austausch mit den Grundschullehrkräften. Erleichternd war auch, dass das gesamte Kollegium eine positive Haltung gegenüber dem Mehrwert der Mehrsprachigkeit der Kinder lebt. Dabei muss ich aber durchaus erwähnen, dass diese neue Art des Arbeitens mit einem enormen Arbeitsaufwand verbunden ist, der auch viel Kreativität erfordert.“

Hasna Hakkadi: „Das stimmt, der Arbeitsaufwand ist, verglichen mit meiner vorherigen Tätigkeit als HSU-Lehrkraft, viel höher. Aber man bekommt auch viel zurück und es wird deutlich, wie viel man an der Schule bewegen kann. Im Rahmen des Landesprogramms bin ich im Moment im 1. Schuljahr eingesetzt. Aber auf meine Initiative hin haben wir mit der ganzen Schule in diesem Jahr den Tag der Muttersprache gefeiert. Alle Klassen, nicht nur der Jahrgang, in dem ich arbeite, haben sich mit verschiedenen Projekten beteiligt. Ein weiterer Schritt hin zu einer mehrsprachigen Schule. Das war ein schönes Erfolgserlebnis.“

 

Was wünschen Sie sich an weiterer Unterstützung?

Nevin Yelmen: „Wünschenswert wären Fortbildungen für uns Lehrkräfte und die Möglichkeit zum Austausch mit anderen Schulen zu konkreten Unterrichtsvorhaben (inklusive Materialien), aber auch über theoretische Ansätze zum mehrsprachigen Spracherwerb.“

Dirk Gröbert: „Vielleicht besteht die Möglichkeit, einen digitalen Materialpool anzulegen, auf den alle Schulen zugreifen können. Auch die Vernetzung auf Schulleitungsebene wäre wünschenswert.“

 

Erstes Fazit nach knapp einem Jahr im Landesprogramm

Hasna Hakkadi: „Die Umsetzung des Programms braucht Zeit und Geduld. Die Kommunikation zwischen allen Beteiligten ist das Wichtigste.“

Nevin Yelmen: „Durch unsere Arbeit und die Einbeziehung und Stärkung der Mehrsprachigkeit schaffen wir ein gutes Zusammenleben.“

Hasna Hakkadi: „Es geht nicht nur um Sprachbildung, es geht auch um das Wissen über und das Verständnis für verschiedenen Kulturen.“

Dirk Gröbert: „In unserem Mikrokosmos ‚An der Burg‘ funktioniert das Zusammenleben, weil alle die Mehrsprachigkeit und Mehrkulturalität mit Herzblut leben. Leider funktioniert das in unserer (erwachsenen) Gesellschaft nicht überall.“

 

Das Interview führten Manfred Höhne und Christiane Wengmann, Landesstelle Schule Integration.