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Religionsunterricht in Nordrhein-Westfalen zukunftsfähig gestalten

Zwei in Regenbogenfarben bemalte Kinderhände werden hochgehalten.

Religionsunterricht in Nordrhein-Westfalen zukunftsfähig gestalten

Wo steht der Religionsunterricht in Nordrhein-Westfalen heute und wie lässt er sich weiterentwickeln? Eine Bestandsaufnahme von PD Dr. habil Paul Platzbecker, OStD i. K. und Honorarprofessor Rainer Timmer.

Gastbeitrag aus der Wissenschaft

[Schule NRW 05-23]

1. Warum und wozu wir heute religiöse Bildung überhaupt (noch) brauchen 

Mit seinem zentralen Ziel der Pluralitätsfähigkeit tritt der Religionsunterricht in Nordrhein-Westfalen den realen gesellschaftlichen Herausforderungen, vor die uns die zunehmende Religionspluralität stellt, konstruktiv und offen entgegen. Bildungsprozesse, die zu einem reflektierten Umgang mit eigener und fremder Religion verhelfen, stärken die Schülerinnen und Schüler und somit unsere demokratische Gesellschaft in ihrem Kern. Darüber hinaus leistet dieser reflektierte Umgang einen Beitrag dazu, exklusiv, fundamentalistische Haltungen, die mitunter gesellschaftliche Verwerfungen generieren und das friedliche Zusammenleben in der Gesellschaft empfindlich stören können, kritisch entgegen zu treten.

Die Religionspluralität ist regional sehr unterschiedlich entwickelt. Deshalb wird in den Thesen zur Weiterentwicklung des Religionsunterrichts in Nordrhein-Westfalen (siehe Infokasten) differenzierend von erlassregulierten Optionen ausgegangen, nämlich dem Religionsunterricht in getrennten Lerngruppen, dem konfessionell-kooperativen Religionsunterricht (KoKoRU), sowie Modulen interreligiöser Begegnung unter Einbeziehung der säkularen Option des (praktischen) Philosophieunterrichts.

Wenngleich also der Anteil nicht religiös gebundener Schülerinnen und Schüler in Nordrhein-Westfalen statistisch wächst, bleibt das Interesse an Fragen konstitutiver Rationalität doch unverändert hoch.

Auf der Grundlage des Bildungsverständnisses der sogenannten Domänenspezifik (Jürgen Baumert) lassen sich unterschiedliche Modi der Weltbegegnung zwar begrifflich unterscheiden, nicht jedoch faktisch voneinander trennen. So nähern wir uns der Weltbetrachtung beispielsweise vom Standpunkt der Politik, des Rechts, indem wir normativ-evaluativ in Auseinandersetzung mit Wirtschaft und Gesellschaft gehen. Die Kernfrage könnte aus dieser Herangehensweise lauten: „Wie ist die soziale Welt verbindlich zu ordnen?“ 

Naturwissenschaften fragen im Zugriff einer kognitiv-instrumentellen Modellierung der Welt „Wie geht es?“. Die Kunst fragt in ästhetisch-expressiver Begegnung und Gestaltung „Wie begegnet mir die Wirklichkeit und wie kann ich die Wirklichkeit ausdrücken?“. Philosophie und Religion rücken in die Weltwirklichkeit den Menschen mit in die Untersuchung und fragen „Was ist wirklich?“ bzw. erweitert um die Sinnfrage nach der eigenen Existenz: „Wozu bin ich da?“.

Bezieht man dieses Bildungsverständnis in den Begründungszusammenhang für Religionsunterricht mit ein, so eröffnet dieser vornehmlich die Möglichkeit für Schülerinnen und Schüler, eine Unterstützung in der Entwicklung einer eigenen religiösen Identität zu finden und seine eigene religiöse Prägung einem Bildungsprozess zu unterziehen, der die kulturelle Praxis von Religion als Lebensressource begreifbar machen kann. Dabei ist es im ausdrücklichen Interesse der Kirchen, in freier symmetrischer Kommunikation unter Beachtung des Überwältigungsverbots die religiöse Identitätsbildung von Schülerinnen und Schülern zu begleiten. Und sollte im Ergebnis der Austritt aus einer Religionsgemeinschaft stehen, so versteht sich auch diese Entscheidung als Bildungserfolg im Sinne des Grundgesetzes.

Religionsunterricht in Nordrhein-Westfalen ist nämlich nicht etwa ein ‚staatliches Geschenk‘ an die Religionsgemeinschaften. Die Rahmenbedingungen des Religionsunterrichtes sind in Nordrhein-Westfalen durch die Bestimmungen der Grundgesetzartikel 4 und 7 vielmehr unter staatlichen Schutz gestellt. Religionsunterricht ist demnach als Möglichkeitsbedingung zur Religionsausübung und Religionsbildung in formalen Bildungsprozessen zu verstehen. Dem vergleichbar sind auch Artikel 14 der Landesverfassung Nordrhein-Westfalens sowie § 31 Schulgesetz NRW. So basiert der freiheitliche Rechtsstaat auf religiösen und weltanschaulichen Voraussetzungen, die ein weltanschaulich neutraler Staat nicht selbst setzen kann, deren Vermittlung im Bildungssystem jedoch unerlässlich bleibt.

Insofern nimmt der Religionsunterricht Bezug auf gesellschaftlich reale Religionsgemeinschaften als inhaltliche Bezugsgrößen. Die Inhalte des Religionsunterrichtes werden nicht durch den weltanschaulich neutralen Staat bestimmt, sondern in Übereinstimmung mit den Religionsgemeinschaften festgelegt. Vor diesem Hintergrund ist Religionsunterricht in den Bundesländern, die mit Inkrafttreten des Grundgesetzes keine anderslautenden Regelungen hatten, kein neutrales religionskundliches Fach, sondern authentisch auf das jeweilige Bekenntnis bezugnehmender Religionsunterricht als ordentliches Lehrfach. Lehrerinnen und Lehrer werden an staatlichen Universitäten ausgebildet, durch die Religionsgemeinschaften beauftragt (Vokation/Missio) und durch vom Staat finanziell unterstützte kirchliche Institute begleitet und fortgebildet. Darüber hinaus besteht das Recht zur mit den Schulbehörden zu verabredenden Einsichtnahme der kirchlichen Oberbehörden in den Unterricht.

 

2. Was wir bei der Ausgestaltung des Religionsunterrichts für unverzichtbar halten 

Auch heute begegnet Religion nicht abstrakt, sondern stets als konkrete Lebensform einer Gemeinschaft, die diese geschichtlich-kulturell als jeweilige Konfession ausprägt. Wenn Kinder und Jugendliche der Religion also in diesem Sinne ‚authentisch‘ begegnen sollen, so bedarf es ihrer gelebten ‚Innenansicht‘, zu der sich die Religionslehrkraft als konfessioneller ‚Zeuge‘ bekennt. Mit anderen Worten: Religionsunterricht ist von seiner Genese und seinem Anspruch her stets ein bekenntnisbezogener Unterricht, der in Übereinstimmung mit den Grundsätzen der jeweiligen Religionsgemeinschaft (Art. 7,3 GG) erteilt wird. Eine nur vermeintlich neutrale bzw. distanziert auf das ‚Außen‘ beschränkte ‚Religionskunde‘ wird diesem Anspruch nach wie vor nicht gerecht. Indem die Lehrperson als existentiell verwickeltes ‚role model´ für das einsteht, was sie vermittelt, ermöglicht sie den Schülerinnen und Schülern, sich mit der religiösen Position auseinanderzusetzen und auf diese Weise zustimmend oder ablehnend selbstbestimmt ihre eigene Position zu entwickeln. Mehr denn je bedarf es also heute einer ‚transparenten Positionalität‘, die sich neben den konfessionellen Lehrinhalten vor allem auf die erkennbare Haltung und den Standpunkt der Lehrkräfte bezieht.

Dabei wird durch die Konfessionalität des Unterrichts die Entwicklung eines eigenen persönlichen Standpunkts nicht verhindert. Im Gegenteil ist eine solche konfessionell geprägt Positionalität Voraussetzung dafür, dass Lernende angesichts gesellschaftlicher Pluralität ihre gesprächsfähige Identität auch hinsichtlich der eigenen religiösen Orientierung schärfen können. Ein so konturierter Unterricht ist damit gerade die notwendige Basis für einen offenen Dialog mit anderen Konfessionen, Religionen und Weltanschauungen. Damit grenzen sich die Landesskirchen und (Erz-)Bistümer von der weitverbreiteten Auffassung ab, angesichts der zunehmenden Heterogenität der Gesellschaft und der Schülerschaft könne Religionsunterricht nur realisiert werden, wenn der konfessorische Gehalt herabgesetzt werde, oder er müsse sogar durch vermeintlich wertneutrale ‚Religionskunde‘ ersetzt werden.

 

3. Wie wir den Religionsunterricht in Nordrhein-Westfalen weiterentwickeln und zukunftsfähig machen wollen

Gleichwohl ist der konfessionelle Religionsunterricht immer auch ökumenisch gesinnt. Aufgrund der Fortschritte in der Ökumene sowie der demographischen Entwicklung in der Schülerschaft kann der konfessionelle Religionsunterricht seit dem Schuljahr 2018/19 in Nordrhein-Westfalen in konfessionell-kooperativer Form unterrichtet werden. Inhaltlich orientiert sich diese stärker dialogische Form des Religionsunterrichts an dem ökumenischen Grundsatz „Gemeinsamkeiten stärken – Unterschieden gerecht werden“. In verpflichtenden Fortbildungen werden die Lehrkräfte für den Fachlehrkräftewechsel innerhalb eines festgelegten Zeitraumes sensibilisiert. Es ist dieser Wechsel, der sicherstellt, dass konfessionsspezifische Themen im Lernprozess authentisch abgebildet und so von den Schülerinnen und Schülern beider Konfessionen kennengelernt und reflektiert werden können. Damit hat die angedeutete ‚transparente Positionalität‘ im konfessionell-kooperativen Religions­unterricht eine unaufgebbare personale Dimension, die nicht delegierbar ist. So unterscheidet sich das nordrhein-westfälische Modell des KoKoRU maßgeblich von einem möglichen ‚Christlichen Religionsunterricht‘ niedersächsischer Prägung. Die Ergebnisse einer breit angelegten wissenschaftlichen Evaluation zeigen: Diese konfessionell-kooperative Form des Religionsunterrichts stößt in Nordrhein-Westfalen auf hohe Akzeptanz und dient der Qualitätssicherung! 

 

Schließlich fordert die gesellschaftliche Pluralität weiter heraus: Aufgrund der ökumenischen Ausrichtung des Christentums, der Notwendigkeit einer dialogischen Zusammenarbeit der Religionen und des religiösen Wandels bietet es sich an, die an vielen Schulen – in Nordrhein-Westfalen sind es derzeit mehr als 550 – bereits mit Gewinn praktizierte konfessionelle Zusammenarbeit im Religionsunterricht zu fördern und weiter auszubauen.

Wie schon mit Blick auf die Pluralitätsfähigkeit von Schülerinnen und Schülern stellt sich der konfessionelle Religionsunterricht mit den spezifisch nordrhein-westfälischen Überlegungen auch dem Erfordernis der Dialogfähigkeit und somit als Kirche den veränderten Herausforderungen der Gegenwart!

 

Autoren:

PD Dr. Paul Platzbecker, Lehrbeauftragter an der Ruhr-Uni Bochum, Katholisch-Theologische Fakultät; Leiter des Instituts für Lehrerfortbildung, Essen

Prof. Rainer Timmer, Landeskirchenrat, Dezernent der Evangelischen Kirche von Westfalen

6 Thesen zur Zukunft des Religionsunterrichts

Können in einem weiteren Schritt Interreligiöse Module als bereichernde Gestaltungsformen interreligiösen Lernens zu einer vertieften Dialogkultur beitragen?

Kann dies die Pluralitätsfähigkeit der Schülerinnen und Schüler weiter fördern? Zu einem zukunftsfähigen Religionsunterricht haben die Evangelischen Landeskirchen und die Katholischen Diözesen in Nordrhein-Westfalen Thesen formuliert:

https://www.nrw-evangelisch.de/storage/files/f385c03d-536c-41e1-94a3-35c82e88dfb7/ThesenfuereinenzukunftsfaehigenRU.pdf