
„Wenn morgens der Milchmann klingelt, weiß ich, dass ich in einer Demokratie lebe“
Demokratiekompetenz junger Menschen fördern – das ist der Schulministerin und dem Schulministerium besonders wichtig. Dabei können sie sich genau 80 Jahre nach Ende des Zweiten Weltkriegs auf Schülerinnen und Schüler verlassen, die aufsehenerregende Projekte initiieren, um sich für unsere Staatsform stark zu machen und der Demokratie in herausfordernden Zeiten immer wieder neues Leben einzuhauchen. Inspirierende Begegnungen auf einer Reise durch Nordrhein-Westfalens Bildungslandschaft.
Plötzlich ist Winston Churchill mit im Raum. Dutzende Schülerinnen und Schüler und Schulministerin Dorothee Feller haben an diesem Nachmittag in der Akademie Klausenhof im münsterländischen Hamminkeln gerade ihre Plätze eingenommen, als Thorsten Gonska, Geschäftsbereichsleiter Seminare und Tagungen in der Akademie, den früheren britischen Premierminister zitiert: „Wenn es morgens um sechs an meiner Tür läutet und ich kann sicher sein, dass es der Milchmann ist, dann weiß ich, dass ich in einer Demokratie lebe." Gonska befördert die Anwesenden mit diesen Worten gedanklich zurück in dunkle Zeiten, in denen zu ganz früher Stunde eben nicht der Milchmann, sondern die Geheimpolizei vor Türen und bald darauf in den Wohnungen stand, um Menschen abzuholen und in Folterräume und Konzentrationslager zu bringen. „Es ist nicht selbstverständlich, in einer Demokratie zu leben“, betont Gonska, „wir alle müssen uns ständig dafür einsetzen, dass sie bleibt.“
Freiheitliche Grundwerte feiern, sich engagieren für unsere Staatsform, der Demokratie immer neues Leben einhauchen - in der Akademie Klausenhof geht es in den kommenden beiden Tagen genau darum. Die Schülerinnen und Schüler, angereist aus Städten und Orten in ganz Nordrhein-Westfalen, engagieren sich mit Vorträgen, in Workshops und intensiven Gesprächen für die Fortexistenz unserer Demokratie. Bedrohungen lauern allerorten: autoritäre Regime in vielen Ländern der Welt, Anschläge und Attacken von Terroristen und Extremisten, wachsender Antisemitismus, massenhafte Verbreitung von Unwahrheiten im Internet. Die Veranstaltung, die dagegen Zeichen auf schulischer Ebene setzt, nennt sich Regionale Lernstatt NRW und wird organisiert von der Akademie Klausenhof, der Heinrich-Böll-Stiftung und dem Verein „Demokratisch handeln e.V.“
Dieser richtet – unterstützt vom Bundesministerium für Bildung und Forschung und von den Kultus- und Schulministerien in den Ländern – neben der Lernstatt alljährlich bundesweit einen Demokratie-Wettbewerb aus, in dem Schülerinnen und Schüler aus der ganzen Republik ihre Projekte präsentieren können. In diesem Jahr drückten nordrhein-westfälische Schulen dem Wettbewerb ihren Stempel auf: 13 von 50 Bundessiegern kommen aus unserem Bundesland. Ausgezeichnet wurden unter anderem die Projekte „Nur Mädchenkram – Schülerinnen, Schülerinnen mit Courage gegen Ausgrenzung, Vorurteile und Diskriminierung“ des Märkischen Gymnasiums Hamm, „Jugend fragt, Jugend sagt“ des Hildegard-von-Bingen-Gymnasiums in Köln, „Wir bewirken Gutes 2 – Unsere Schüler:innen verbessern das Schulklima!“ der Willy-Brandt-Gesamtschule Bottrop und „Von Spielplatz-Checkern zu Spielplatz-Gestaltern“ der Städtischen Gemeinschaftsgrundschule Arnsberg. „Das ist das beste NRW-Ergebnis in der Geschichte des Wettbewerbs“, freut sich Andreas Dohm, Mitorganisator des deutschlandweiten Contests und einer der beiden nordrhein-westfälischen Landeskoordinatoren des Vereins Demokratisch Handeln.
Zu diesem bärenstarken Ergebnis beigetragen hat auch das Kölner Projekt „Marina. Der Krieg war für mich nie zu Ende“, das ebenfalls auf der Liste der Ausgezeichneten auftaucht und im Zeichen des Erinnerns an das Kriegsende am 8. Mai 1945 steht. Dahinter verbirgt sich ein filmisches Vorhaben des Bundesverbandes Information und Beratung für NS-Verfolgte mit nordrhein-westfälischen Jugendlichen und Überlebenden der nationalsozialistischen Verfolgung. Jung und Alt starten gemeinsam eine Video-Reise, um das von Zeitzeuginnen und Zeitzeugen Erlebte als Mahnmal für die Zukunft festzuhalten. Sie suchen historische Orte auf, kommen dort zu Themen wie Menschenfeindlichkeit und Diskriminierung ins Gespräch, drehen Animationsfilme. Die Jury hat großen Gefallen an dem Projekt mit seiner außergewöhnlichen Perspektive auf die Vergangenheit gefunden.
Insgesamt 70 nordrhein-westfälische Einreichungen für den nun zu Ende gegangenen Bundeswettbewerb gab es. Darunter war beispielsweise die Agnes-Wenke-Sekundarschule in Arnsberg mit ihrem Projekt „Diamanten der Demokratie“, das zentrale Werte unseres Grundgesetzes behandelt. Oder der „Kabarettungsdienst“ des Johannes-Rau-Gymnasiums in Wuppertal, der sich von der schulischen Theaterbühne aus mit künstlerischen Mitteln gegen Feinde unserer freiheitlich-demokratischen Grundordnung auflehnt. Auch dabei war der Grundschulverbund aus dem sauerländischen Wenden, den besonders die Kinderrechte aus der UN-Kinderrechtskonvention bewegen. Und es präsentierte sich die Erich-Fried-Gesamtschule in Herne, die eine „Spurensuche“ in geschichtlichen Epochen betreibt, um aus dem Gestern zu lernen, wie die Demokratie heute für das Morgen stark gemacht werden kann.
„Jede Bürgerin und jeder Bürger muss unsere Demokratie aktiv gestalten und verteidigen“, sagt Ministerin Feller am Eröffnungsnachmittag der Regionalen Lernstatt in Hamminkeln in ihrem Grußwort, „dabei ist es egal, welches Alter diejenigen haben, die Haltung zeigen und sich für unsere Werte und Institutionen einsetzen. Die Schülerinnen und Schüler, die sich am Wettbewerb ‚Demokratisch Handeln‘ beteiligen, leisten einen wichtigen Beitrag für unser demokratisches Zusammenleben. Für unsere Demokratie ist jedes einzelne Projekt ein Gewinn!“ „Das Engagement der Schulen gibt uns Hoffnung für die herausfordernden Zeiten, die freiheitliche Demokratien weltweit gerade erleben“, ergänzt Christoph Schlagenhof, der zweite Landeskoordinator des Fördervereins Demokratisch Handeln in Nordrhein-Westfalen, „denn genau in diesen Krisen liegt auch eine Chance: Sie können uns stärker und widerstandsfähiger machen – gerade auch durch junge Menschen, die aktiv ihre Stimmen zugunsten unserer Demokratie erheben.“
Anschließend macht sich die Ministerin zusammen mit den Organisatoren Dohm und Schlagenhof auf den Weg in die Räume, in denen die Schulen ihre Projekte zeigen. Sie möchte mit möglichst allen Schülerinnen und Schülern, die an diesem Tag in die Akademie Klausenhof gekommen sind, ins Gespräch kommen. Plakatwand reiht sich an Plakatwand, alle in liebvoller Kleinarbeit gestaltet und gefüllt mit Ideen, bewegenden Texten und viel Farbe. „Frieden bedeutet für mich: Alles ist gut, Teamarbeit, Freude, schöne Welt“ ist auf einer Wand zu lesen. Auf einer anderen huldigen Schülerinnen und Schüler dem Grundgesetz, haben einen kleinen Song getextet: „Du bist jetzt 75 Jahr, das ist richtig wichtig, klar. Schön, dass es dich gibt, drum hier für dich`n Lied“. Auf einer weiteren Wand erstrahlen zahlreiche Artikel dieses Grundgesetzes von gelb-weißen Zetteln, daneben Fotos aus dem schulischen Leben, beispielsweise eine friedliche Streitschlichtung auf dem Schulhof. Viele der Schülerinnen und Schüler, die die Ministerin trifft, sind noch sehr jung, kommen aus Grundschulen. Stolz sind die Kinder, die Augen leuchten, die Worte sprudeln. Mit großem Eifer berichten sie von ihren Projekten und dem Spaß, den sie bei der Plakatproduktion gehabt haben.
Mit Spaß und Zuversicht stärker und resilienter werden – dafür sollen auch viele andere Initiativen zur Förderung von Demokratiekompetenz an Schulen sorgen, die das Schulministerium gestartet hat oder an denen es sich gerade beteiligt. So gibt es an der Zeppelinschule in Plettenberg im Märkischen Kreis jetzt beispielsweise ein Angebot mit dem Namen „Kunst für die Seele“. Mädchen der Schule haben es sich gewünscht. Sie wollen auf kreative Art und Weise Möglichkeiten ausloten, wie sie sich mehr am Schulleben beteiligen können, und sie möchten noch besser lernen, mit ihren Gefühlen umzugehen. „Als Schule, die sich weiterentwickeln will, müssen wir noch mehr als heute berücksichtigen, welche Vorschläge und Interessen Kinder und Jugendliche haben. Mit unserem neuen Angebot machen wir einen Schritt in diese Richtung“, sagt Schulsozialarbeiterin Khaoula Gerdes.
„Kunst für die Seele“ ist ein Beispiel dafür, wie Vorstellungen von Schülerinnen und Schülern in neue Beteiligungsformen an nordrhein-westfälischen Schulen einfließen können. Die Zeppelinschule nimmt teil am Schulprogramm „Your Vision Schule NRW – Junge Beteiligung für die Schule von morgen“, das im vergangenen Jahr vom nordrhein-westfälischen Schulministerium und der Deutschen Kinder- und Jugendstiftung (DKJS) gestartet wurde. Diese setzt sich seit mehr als 30 Jahren dafür ein, dass junge Menschen in Deutschland eine demokratische Kultur des Miteinanders erleben und erlernen. Bis zum Jahr 2026 will das neue Programm Gedanken der Schülerinnen und Schüler für die Schule von morgen einholen und sie durch den Beteiligungsprozess in ihren Demokratiekompetenzen stärken.
Rund 130 Schulen haben die Einladung bereits angenommen und entwickeln frische Ideen dazu, wie Schule gestaltet sein muss, um dort noch besser zu lernen, sich wohlzufühlen und mitgestalten zu können. Die Schülerinnen und Schüler äußern sich zum Unterricht, zu Lerninhalten, Prüfungsformen oder der räumlichen Gestaltung der Schule. Unter anderem fordern sie mehr digitale Bildung. Ministerin Feller freut sich über das große Interesse am Beteiligungsprogramm. „Wir wollen noch viel mehr darüber wissen, was unsere Schülerinnen und Schüler bewegt. Unser Ziel ist es, auch vor dem Hintergrund vieler Bedrohungen für unsere Demokratie das Bewusstsein für unsere freiheitlich-demokratischen Werte an unseren Schulen zu stärken. Demokratie braucht Demokraten – und diese wachsen insbesondere an unseren Schulen heran. Kinder und Jugendliche sollen ganz früh in der Lage sein, ihre Interessen zu vertreten, aber auch lernen, dass es zu unserer Demokratie gehört, die Ansichten anderer zu respektieren und Konflikte friedlich und in gegenseitigem Respekt zu lösen. Unser neues Beteiligungsprogramm fördert diese Fertigkeiten ganz gezielt.“
Dies geschieht zum Beispiel in der Overbergschule im münsterländischen Ahlen. Dort entwickeln Schülerinnen und Schüler in Arbeitsgemeinschaften neue Partizipationsmöglichkeiten. Um festzustellen, was an ihrer Schule fehlt oder verbessert werden kann, haben sie eine Fotorallye organisiert und neben Lieblingsorten auf ihrem Schulgelände auch Plätze definiert, die bei den Kindern und Jugendlichen weniger beliebt sind. Zudem haben sie über ein digitales Café für Schülerinnen und Schüler, ein Angebot des YourVision-Programms, einen engen Austausch mit anderen Schulen begonnen. „Ich begrüße es sehr, wenn die Schulen auch voneinander profitieren, schließlich haben viele unserer Schülerinnen, Schüler, Lehrerinnen und Lehrer gute Ideen, die weit über die bisher existierenden Beteiligungsformate hinausgehen“, sagt Ministerin Feller.
Demokratie braucht Demokraten – und diese wachsen insbesondere an unseren Schulen heran.
Schulministerin Dorothee Feller
Neben der Regionalen Lernstatt in Dingden oder dem YourVision-Beteiligungsprozess gibt es zahlreiche weitere Initiativen. „Jugend debattiert“ beispielsweise ist ein Schülerwettbewerb, der seit 2001 auf Initiative und unter Schirmherrschaft des Bundespräsidenten, von der Hertie-Stiftung und der Heinz-Nixdorf-Stiftung in Kooperation mit den Schul- und Kultusministerien, der Kultusministerkonferenz und den Parlamenten der Länder als Partner durchgeführt wird. Auf Bundesebene ist seit 2019 das Bundesministerium für Bildung und Forschung an der Förderung des Wettbewerbs beteiligt. Auf Schul-, Regional- und Landesebene bis hin zum Bundeswettbewerb können Schülerinnen und Schüler ab Klasse 8 in zwei Altersgruppen ihre Fähigkeiten erproben. Die Debatte vermittelt den Jugendlichen im Unterricht und im Wettbewerb die Erfahrung der Selbstwirksamkeit und offenbart ihnen den Kern der Demokratie: unterschiedliche Meinungen friedlich austauschen und gesellschaftlichen Zusammenhalt wahren.
Das Landesprogramm Kinderrechteschulen NRW etabliert demokratische Partizipationsstrukturen bereits in der Grundschule. Mit Schülerparlamenten, Klassenrat und Projekten zum Thema Kinderrechte werden schon junge Schülerinnen und Schüler befähigt, sich wertegebunden in die Gestaltung des schulischen Alltags einzubringen und sich über die Schule hinaus für die Achtung der Kinder- und Menschenrechte einzusetzen.
Weitere Hebel zur Steigerung der Demokratiekompetenz sind die vom Schulministerium und der Deutschen Gesellschaft für Demokratiepädagogik veranstalteten Demokratietage und die Förderung der UNESCO-Projektschulen, die sich unter anderem für Demokratie- und Menschenrechtsbildung sowie interkulturelles Lernen einsetzen. Die UNESCO-Projektschulen beschäftigen sich auch intensiv mit globalen Entwicklungen wie der Zunahme von gewaltsamen Konflikten, dem Klimawandel und nationalistischen Tendenzen.
Das Landesprogramm „Schule der Zukunft“ motiviert die am Schulleben Beteiligten, Bildung für nachhaltige Entwicklung (BNE) zum Bestandteil ihrer Unterrichts- und Schulentwicklung zu machen. Ein neues Internetportal bildet die ganze Vielfalt der schulischen Angebote ab und unterstützt Lehrkräfte und Schulleitungen, Demokratiebildung an ihren Schulen erfolgreich zu gestalten.
„Alle schulischen Projekte zeigen, wie sehr wir als Gesellschaft davon profitieren, wenn junge Menschen nicht darauf warten, dass andere die Welt für sie verändern, sondern die Welt selbst in Bewegung setzen”, erläutert Ministerin Feller. Innovative Projekte für Werte wie Vielfalt, Toleranz und Gleichberechtigung helfen dabei, das Fundament der Demokratie zu festigen und ihre Stabilität in der Zukunft auch gegen zerstörerische Demokratiefeinde abzusichern. Damit alle auch weiterhin sicher sein können, dass es der Milchmann oder ein anderer netter Mensch ist, wenn es morgens um 6 Uhr an der Tür klingelt.
Autor: Frank Lehmkuhl, Ministerium für Schule und Bildung NRW