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Eine Schulfahrt zu vergessenen Orten des Holocaust

Mahnmal in der Gedenkstätte Belzec

Eine Schulfahrt zu vergessenen Orten des Holocaust

Wie kann eine erfolgreiche Zusammenarbeit zwischen Schulen und Bildungspartnern aussehen und welchen Mehrwert kann es haben, mit Schülerinnen und Schülern auch weniger bekannte Gedenkstätten zu besuchen? Das Beispiel des Neuen Gymnasium Bochums zeigt es.

Eine Schulfahrt zu vergessenen Orten des Holocaust

[Schule NRW 01-24]

Seit 2018 führt das Neue Gymnasium Bochum (kurz: NGB) eine Polenfahrt nach Lublin und Zamość mit Besuch der Gedenkstätten Majdanek und Bełżec mit Klassen der Jahrgangsstufe Q1 durch. Begleitet und unterstützt wird die Fahrt durch Bildungspartner wie die Steinwache Dortmund sowie finanziell durch die Fördermittel des Landes Nordrhein-Westfalen für schulische Gedenkstättenfahrten. Mit Erfolg: Inzwischen haben sich die Anmeldezahlen für die freiwillige Fahrt pro Jahrgangsstufe verdoppelt.

 

„Lublin bietet sich als Standort für eine Gedenkfahrt wegen seiner herausragenden historischen Bedeutung an.“

Ende 2016 erreicht das NGB das Angebot, an einer Lehrerfortbildung über „Vergessene Orte des Holocaust in Ostpolen“ teilzunehmen. Das Fortbildungsangebot passt perfekt zu einigen noch losen Vorüberlegungen im Kollegium der Schule, eine Fahrt zu weniger bekannten Orten des Holocaust in Polen zu initiieren. Die Fortbildung, an der eine Lehrkraft des NGB teilnimmt, ist überzeugend und zeigt schnell die vielen Vorteile für eine Fahrt mit Schülerinnen und Schüler nach Ostpolen zu „vergessenen Orten des Holocaust“ auf.

Lublin bietet sich als Standort für eine Gedenkfahrt wegen seiner herausragenden historischen Bedeutung an: als Stadt mit ausgeprägter und langer jüdischer Geschichte, mit der Gründung der Jeschiwa 1930 gar zeitweilig geistiges Zentrum des osteuropäischen Judentums, als NS-Hauptquartier und Verwaltungssitz des „Distrikts Lublin“ mit dem am Ortsrand gelegenen früheren Konzentrations- und Vernichtungslager Majdanek, als Ausgangsort für die „Aktion Reinhardt“ und die „Räumung“ des Lubliner Ghettos ab dem 16. März 1942.

Für die Polen ist Lublin historisch darüber hinaus ein wichtiger Ort, weil hier im Jahr 1569 das Königreich Polen mit dem Großfürstentum Litauen eine Union einging, die sogenannte Lubliner Union: Das multiethnische Großreich hatte bis 1795 Bestand. An diese hervorgehobene Bedeutung erinnerte man sich auch in den Wirren des 20. Jahrhunderts: Gleich zweimal (1918 und 1944) war Lublin kurzzeitig Sitz der polnischen Regierung.

Von Lublin aus bietet sich ein Tagesausflug in die äußerst sehenswerte Kleinstadt Zamość und nach Bełżec an. Zamość ist für das NGB eine besonders wichtige Station, da die ohnehin spannende Historie der Kleinstadt eine direkte Verbindung zur Geschichte der Bochumer Juden und Jüdinnen hat: Am 30. April 1942 wurden jüdische Menschen aus dem Regierungsbezirk Arnsberg vom Dortmunder Südbahnhof aus nach Zamość deportiert, darunter somit auch Bochumer Jüdinnen und Juden, von denen einige Biografien exemplarisch für die vielen anonymen Opfer des NS-Terrors über die gesamte Fahrt begleiten.

Lublin ist darüber hinaus heute eine vergleichsweise kostengünstige, überaus schöne, studentisch geprägte Stadt mit vielseitigem Angebot und lebendiger, charmanter Altstadt und somit eine ideale Abwechslung für Schülerinnen und Schüler nach emotional herausfordernden Programmpunkten.

Mit dem Besuch der Gedenkstätte Bełżec haben die Schülerinnen und Schüler die Möglichkeit, die Geschichte eines zentralen Vernichtungslagers der Nationalsozialisten kennenzulernen, dessen Bedeutung für die Umsetzung des Völkermords an den europäischen Juden und Jüdinnen heute weitgehend unbekannt ist: Wer nach Bełżec fährt, schaut sich diesen Gedenkort als Besucherin oder Besucher in der Regel allein ohne großen Andrang an.

 

„Von Anfang ist es ein großer Vorteil, sich auf starke Bildungspartnerschaften verlassen zu können.“

Nach den positiven Eindrücken der Fortbildung geht es an die Arbeit. Ein Team von einigen Kolleginnen und Kollegen bildet sich heraus, um die erste Fahrt nach Ostpolen zu planen. Von Anfang ist es ein großer Vorteil, sich auf starke Bildungspartnerschaften wie die Steinwache Dortmund, aber auch auf die Unterstützung des Bildungswerks Stanislaw Hantz verlassen zu können. Für die Fahrt wurden zwei Vorbereitungstage für die Schülerinnen und Schüler geplant, die dazu genutzt werden, sie mit der Geschichte Bochumer Jüdinnen und Juden, die 1942 nach Zamość deportiert wurden, vertraut zu machen. Stadtführungen durch Bochum und Dortmund stellen sicher, den Schülerinnen und Schülern zu vermitteln, dass die Vernichtungspolitik der Nazis zwar in Ostpolen umgesetzt wurde, aber auch in den Innenstädten von Bochum und Dortmund vor aller Augen begann. Zur ersten Fahrt meldeten sich bei vierzig freien Plätzen 48 Schülerinnen und Schüler an.

 

„Teilnehmerinnen und Teilnehmer beschreiben die Fahrt vielfach als eindrucksvollstes Erlebnis ihrer Schullaufbahn.“

Mit einer Zwischenübernachtung in Poznań wird Lublin erreicht. Besonders eindrucksvoll für Schülerinnen und Schüler ist hier das Konzept der Konfrontation mit Originalorten der Geschichte: Bei der Führung durch das frühere jüdische Viertel von Lublin etwa oder der Führung durch den kleinen Ort Bełżec rund um die heutige Gedenkstätte herum werden die Schülerinnen und Schüler immer wieder an den Originalschauplätzen mit historischen Dokumenten – Fotografien, amtlichen Dokumenten, Zeugenaussagen und Lebensberichten – konfrontiert. Den Eindruck der Synchronizität von Vergangenem und Gegenwärtigem, der hier durch visuelle Quellen, historische Erlebnisberichte und den eigenen Eindrücken vom gleichen Ort achtzig Jahre später entsteht, schärft den Sinn für die Lebendigkeit und Aktualität der Geschichte. Als besonders einprägsam erleben die Schülerinnen und Schüler den Besuch der Gedenkstätte Bełżec: Ausschnitte aus der bedrückenden Autobiografie Rudolf Reders führen auf das Gelände der heutigen Gedenkstätte, an der auf unzähligen Treppenstufen die Orte eingraviert sind, aus denen die Opfer der NS-Vernichtungspolitik kamen, um in Bełżec ermordet zu werden. An der Treppenstufe mit der Aufschrift von Dortmund hält die Gruppe inne, um der Opfer der Mitbürgerinnen und Mitbürger aus Bochum, Dortmund und Umgebung zu gedenken. Hier wird es sehr still und es fließen auch einige Tränen. Emotionen und Eindrücke, die in den Gesprächs- und Reflexionsrunden am selben Abend und am nächsten Tag artikuliert, begleitet und aufgearbeitet werden.

Teilnehmerinnen und Teilnehmer beschreiben die Fahrt vielfach als eindrucksvollstes Erlebnis ihrer Schullaufbahn. Bei vielen Schülerinnen und Schülern entsteht nach der Fahrt der Wunsch, sich zu engagieren: gesellschaftliches und soziales Engagement zu zeigen, sich für die Aufarbeitung der NS-Geschichte einzusetzen, gegen Diskriminierung und Rassismus im Alltag unserer Gegenwart vorzugehen. So sind es auch die Teilnehmerinnen und Teilnehmer dieser Fahrt, die das Schulleben in den nächsten Jahren prägen: Sie verfassen Facharbeiten zur „Aktion Reinhardt“ und dessen Lagern, halten Vorträge am Holocaust-Gedenktag an unserer Schule, setzen sich bei Anti-Diskriminierungsprojekten an führender Position ein oder unterstützen die Erinnerungsarbeit unserer Schule als Alumni.

 

„Wie denken polnische und tschechische Schülerinnen und Schüler über die deutschen Verbrechen des Zweiten Weltkriegs?“

Seit 2019 unterhält das NGB eine Schulpartnerschaft zu einer Europaschule in Zamość. Ein Kontakt zu dieser Schule wurde über den Bildungspartner, die Steinwache in Dortmund, vermittelt. Im Herbst 2022 hat das NGB einen Antrag auf Akkreditierung als Erasmusplus-Schule eingereicht, der im Februar 2023 bewilligt wurde. Im Herbst 2023 begann, gefördert durch Erasmusplus, ein Projekt in Zusammenarbeit mit der Partnerschule in Zamość sowie einer weiteren in Český Brod in Tschechien, das die Eindrücke der jährlichen Fahrt nach Polen um einen wichtigen Aspekt ergänzen soll.

In dem Projekt gehen deutsche, tschechische und polnische Schülerinnen und Schüler gemeinsam der Frage nach, welche Unterschiede und Gemeinsamkeiten in regionalen und nationalen Erinnerungskulturen an den Holocaust in Deutschland, Tschechien und Polen existieren. Hierzu finden Treffen in Deutschland, Tschechien und Polen statt und es werden regionale Formen von Erinnerungskultur erkundet und nationale Erzählungen zum Zweiten Weltkrieg auf Gemeinsamkeiten und Unterschiede untersucht. Letztendlich kann so in Zusammenarbeit mit polnischen und tschechischen Schülerinnen und Schülern versucht werden, eine gemeinsame, europäische Erzählung zu finden.

 

Autor: Nils Vollert, Neues Gymnasium Bochum

Förderung von Gedenkstättenfahrten

Historisch-politische Bildung ist ein wichtiger Schwerpunkt der Schul- und Unterrichtsentwicklung in Nordrhein-Westfalen. Viele Schulen kooperieren regelmäßig mit Gedenk- und Erinnerungsstätten und haben Exkursionen zu diesen Lernorten in ihr Bildungsangebot aufgenommen.
Um die Finanzierung dieser Fahrten verlässlich und unabhängig von Dritten zu gestalten, stellt das Land Nordrhein-Westfalen Fördermittel in Höhe von rund 2 Millionen Euro pro Jahr zur Verfügung.

Weitere Informationen und Beratung zu den Fördermitteln erhalten Lehrkräfte und Mitarbeitende von Gedenk- und Erinnerungsorten bei Bildungspartner NRW.